Berlin lesen

Städte sind, und darin macht Berlin keine Ausnahme, Erzählräume, die von Historischem ebenso wie von Gegenwärtigem berichten. Wie Schichten, so die immer wieder verwendete Metapher, lagere sich die Geschichte in den Strukturen einer Stadt ab und unterlege deren Topographie mit Bedeutungen. Die Lesarten dieser historischen Gemengelage sind ebenso zahlreich wie die "mental maps", unsere subjektiven Wegweiser durch eine Stadt.

Für ihre Bewohner stellt die Stadt einen privaten Erinnerungsraum dar. Die Plätze, Häuser und Straßen des eigenen Viertels werden als Orte ganz individueller Lebensgeschichten gelesen und die alltäglich zurückgelegten Wege verfestigen die Rolle des Stadtgrundrisses als Gedächtnisinstrument. Die "große" Geschichte Berlins sucht man in der Regel freilich anderenorts. Insbesondere die touristischen Blicke fokussieren dabei zielsicher den repräsentativen historischen Baubestand und orientieren sich an den staatlich bestellten Wegweisern zur Identitätsstiftung: den Denkmälern. Aber auch den architekturhistorisch Interessierten bieten sich Erzählungen an, die einem breiten Spektrum entstammen. Während die einen die maßgebliche städtebauliche Tradition Berlins im 19. Jahrhundert gefunden haben, erklären andere die breite soziale Streuung und Funktionsmischung von Stadtteilen wie Kreuzberg oder Prenzlauer Berg zum Ideal urbaner Attraktivität. Zudem hat der Mauerfall Berlin mit einer weiteren historischen Schicht überzogen und damit die möglichen Lesarten der nunmehr ungeteilten Stadt vervielfacht. Insbesondere durch seinen morbiden Charme wurde der Ostteil der Stadt plötzlich zum Dorado westdeutscher "Spurensucher". An den bröckelnden Hausfassaden ließen sich verblichene Reklametafeln ebenso wie Einschusslöcher der Weltkriege entdecken, sodass die Stadt zum Erlebnisraum einer unmittelbaren Geschichtserfahrung wurde.

Mit dem Mauerfall galt Berlin als eine Stadt im Erwartungszustand. Unter der Annahme, dass es unbesetzte, gleichsam leere Räume in der Stadt gebe, ging man daran, die vermeintlich unbeschriebene Tafel Berlin mit der neuen "Einheits-Erzählung" zu füllen. Die an der Grenze orientierte getrennte Stadtplanung in Ost und West wurde obsolet und das neue Ziel schien unter dem Schlagwort der kritischen Rekonstruktion klar vor Augen. Man wollte die Einheit auch städtebaulich bekräftigen und eine Verbindung der beiden Stadtzentren Mitte und City-West herstellen. Die Marschroute zu diesem Vorhaben, unbedingt an die Geschichte der Stadt anzuknüpfen, stand fest. Aber an welche?

Heute, fast zehn Jahre nach der politischen Wiedervereinigung Deutschlands, gefällt sich Berlin in der Pose der Urbanität. Dabei wird der Zwang zum Ausbau als multifunktionale und repräsentative europäische Metropole durch den Hauptstadtstatus verstärkt. Die gegenwärtige Botschaft, die Regierungsviertel, Potsdamer Platz und Friedrichstraße nach außen senden, ist die Bestätigung der eigenen wirtschaftlichen und politischen Macht. Die Glitzerwelt der Glasfassaden ebenso wie das Aufgreifen der im 19. Jahrhundert geprägten Stadtstruktur übernehmen dabei vorwiegend die symbolische Funktion eines positiven Zukunftsversprechens. Dass dabei offenbar ähnlich aggressive Monokulturen entstanden sind, wie man sie der DDR ankreidet, beginnt sich erst langsam zu entpuppen. Neue soziale und kulturelle Grenzen scheinen sich entlang der baulichen Grenzen dieser Vorzeigeviertel zu etablieren, die nur wenige Funktionen erfüllen und eine Nutzungs- und vor allem Nutzervielfalt verbieten. So beginnt sich der Berliner Stadtraum fast unsichtbar in Territorien einzuteilen. Dass sich die konsequent vernachlässigten Stadtteile zu "No-Go-Areas" entwickeln, wie sie aus amerikanischen Innenstädten bekannt sind, scheint in einer solchen Stadtplanung fast zwangsläufig angelegt.

Umso wichtiger werden die "Grenzgänger", die trotz oder gerade wegen der sozialräumlichen Barrieren die fremden Distrikte aufsuchen. Das bezieht sich nicht nur etwa auf eine Kunstausstellung, die in einem nicht vermieteten Ladenlokal in der Friedrichstraße stattfindet und eine temporäre Aneignung dieses Ortes bedeutet, der auch über das aktuelle Ereignis hinaus als ein durch Kunst besetzter Raum erinnert wird. Grenzgänger sind alle diejenigen, die solche Orte aufsuchen und markieren, die aus dem städtischen Bewusstsein verschwunden sind. Oftmals sind es innerstädtische Brachflächen, verwahrloste, verwilderte Inseln inmitten der Stadt, die ohne definierte Nutzung existieren und einen Freiraum und Anziehungspunkt bilden. Die unterschiedlichsten Akteure prägen diese Orte durch ihre je individuelle Aneignung und fügen dem Erzählraum Berlin weitere Stimmen hinzu. Auch andere Räume, die weit abseits des Topos einer europäischen Metropole liegen, gilt es positiv zu besetzen, will man die für Berlin charakteristische Vielstimmigkeit der Stadt kultivieren. Doch nur jenseits normativer Stadtentwürfe ist die dazu notwendige Konkurrenz der Erzählungen zu realisieren, die eine Sache für Bewohner wie Besucher nie langweilig werden lässt: Berlin zu lesen.

Sabine Kampmann